„Essay“ Über das Erwachsenwerden
Wenn ich auf die vergangenen Jahre zurückblicke, stelle ich fest, dass für junge Menschen wie mich, die aus einfachen Verhältnissen stammen, der größte Nachteil nicht unbedingt die finanziellen Bedingungen sind, sondern das Fehlen verlässlicher Führung während des Aufwachsens – ein Mangel an Erkenntnissen und Erfahrungen. Viele entscheidende Dinge muss man sich selbst mühsam erarbeiten und immer wieder ausprobieren. Manchmal sind die mühsam gezogenen Schlüsse letztlich nur selbstgefällige „Selbstverständlichkeiten“.
Bücher waren eine der wenigen Ressourcen, auf die ich mich verlassen konnte. Leider fiel es mir oft schwer, den Wahrheitsgehalt und den praktischen Wert des Gelesenen zu beurteilen. Einerseits fehlte mir das tiefere Verständnis, ich lernte und imitierte mechanisch, konnte das Wissen aber kaum in die Lösung realer Probleme umsetzen. Andererseits sind manche Inhalte mit der Zeit überholt, wurden aber dennoch als Lebensweisheiten betrachtet und fälschlicherweise auf die heutige Realität angewandt.
Im Vergleich zu Kindern aus wohlhabenderen Familien konnten meine Eltern oder ältere Verwandte aufgrund begrenzter Kenntnisse und Erfahrungen keine vorausschauenden Ratschläge oder Strategien bieten. Ihre Hinweise waren zwangsläufig begrenzt oder sogar falsch. Dieses Fehlen von Orientierung führte dazu, dass ich an wichtigen Weggabelungen allein meinen Weg finden musste – von der Studienwahl über die berufliche Entwicklung bis hin zu zwischenmenschlichen Beziehungen und langfristigen Planungen. Die Kosten für diese Versuche waren oft Lektionen, die ich mit Jugend und verpassten Chancen bezahlte. Verpasst man einen wichtigen Lebensabschnitt, gibt es meist kein Zurück.
Eine der größten Gefahren beim Erwachsenwerden ist die Irreführung durch Menschen mit eigenen Interessen. Sie geben sich oft als „Erfahrene“ aus und wollen uns mit ihren sogenannten Erfahrungen leiten, ohne zu merken, dass ihre Ratschläge von Opportunismus und Kurzsichtigkeit geprägt sind – etwa „Tricks“ im Berufsleben oder vermeintliche „Lebensweisheiten“ von Vorgesetzten. Traurigerweise können auch Familienmitglieder unbewusst Teil solcher Irreführung werden – aus Liebe, aber mit begrenztem Horizont und veralteten oder sogar falschen Ansichten. Diese scheinbar „klugen“ Ratschläge nutzen unsere Unerfahrenheit aus und vermitteln uns eine scheinbar logische, aber letztlich falsche Denkweise. So verschwenden wir wertvolle Zeit damit, falsche Methoden zu lernen und anzuwenden, und treffen in entscheidenden Momenten durch Fehlleitung gravierende Fehlentscheidungen. Wenn man es bemerkt, hat man oft schon einen hohen Preis gezahlt.
Auf meinem Weg bin ich mehrfach schwer gescheitert. Doch zum Glück habe ich an einigen Weggabelungen die richtigen Entscheidungen getroffen und gelernt, aus Fehlern Erfahrungen zu ziehen. Jeder Fehler war eine Gelegenheit, meine eigenen Urteile zu hinterfragen. Ich glaube nicht mehr blind an äußere Stimmen, sondern prüfe und filtere Informationen aktiv, kläre meine Werte durch ständiges Ausprobieren und Anpassen und plane meine Zukunft mit einem weiteren Horizont und mehr Rationalität – ohne mich von kurzfristigen Gewinnen oder Verlusten leiten zu lassen. Die Herkunft kann man sich nicht aussuchen, aber der Weg in die Zukunft liegt immer in der eigenen Hand.
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